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Wie man ein Gastrosoph wird

Eingetragen am 2005-06-19 22:49 von Thorsten Sommer unter #gastrosophie.

„Essen macht Spaß – und viel Essen macht viel Spaß.“, lautet ein Motto meiner Familie. Und ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich mich heute als Hobby-Gastrosoph fühle. – Für die meisten scheint Essen nur Nahrungsaufnahme, ja sogar fast schon lästig zu sein. Für mich ist die Lust am Essen Lebenseinstellung und Lebensgefühl.

Heute fröne ich dieser Lust sehr gerne – nicht regelmäßig, aber sicher doch öfter als der Durchschnitt. Die Lust wecken kann vieles, nicht nur – wie manche jetzt vielleicht vermuten – die hohe Gastronomie, sondern viele, teilweise recht einfache und kleine Freuden und Begebenheiten. Und diese Gelüste hat mich zum Gastrosophen gemacht. Aber ich fange besser vorne an:

Schon als kleiner Junge habe ich meinen Großvater bewundert, wenn er zum Abendbrot freihändig das Brot in Scheiben schnitt. Er hatte dafür ein spezielles, langes Brotmesser. Eins von der Art, wie es sie heute nicht mehr gibt – mit glatter, langgezogener Klinge, die vom vielen Schleifen mit dem Wetzstahl schon schmal geworden war. Es war immer rasiermesserscharf. Wir hatten alle Respekt vor diesem Messer, genauso wie vor meinem Großvater. – Wenn es also bei meinen Großeltern Abendbrot gab, dann saß mein Großvater auf seinem Platz und schnitt mit immer gleichbleibender Präzision und einer tiefen, inneren Ruhe, die fast schon an Meditation erinnerte, gleichmäßig dicke Scheiben von dem großen Graubrotlaib. – Essen musste also etwas sehr Wichtiges sein, wenn mein Opa sich soviel Mühe dafür gab.

Essen spielt in meiner ganzen Familie eine große Rolle. Obwohl wir alle gerne essen, verspüren nicht alle Lust daran. Das merkte ich das erste Mal, als ich meinen Eltern vom ersten gemeinsamen Abendessen mit meiner damaligen Freundin berichtete. Ich hatte sie zum Essen eingeladen (beim Griechen) und dafür sagenhafte 70 DEM hingeblättert. Da wollten mich meine Eltern fast schon für verrückt erklären. „Junge, wie kannst du nur. So viel Geld.“ – Ich fühlte mich trotzdem großartig, denn der Abend war jeden Pfennig wert gewesen.

Dann trat der Vater einer Freundin auf den Plan. Er führte uns gerne aus und hatte immer neue Vorschläge, wo man hingehen und was man dort essen könnte. Von ihm habe ich viel über die unterschiedlichen Restaurants und die Qualität von Speis und Trank gelernt. – Eines Abends lud er uns in das damalige Nobelrestaurant meines Heimatortes ein. Dort sah ich das erste Mal einen Oberkellner am Tisch Lachs tranchieren. Und der schmeckte mir dann sogar – obwohl ich sonst für Dinge aus dem Wasser nicht zu haben bin. In diesem Fall lag das sicherlich an der Präsentation und dem Brimborium, das darum gemacht wurde. Seitdem bestelle ich sehr gerne Dinge, die am Tisch zubereitet werden.

Zur selben Zeit fing ich an mit Geschmäckern zu experimentieren. Alles muss mindestens einmal probiert werden. So exotisch mir meine ersten Gehversuche (z. B. Erdbeeren mit grünem Pfeffer) damals auch vorkamen, habe ich es trotzdem zu meiner Devise erhoben. Und freue mich jedes Mal, wenn ich wieder etwas Unbekanntes, aber äußerst Leckeres erwische. – So kann Essen gar nicht mehr langweilig werden.

Wissensschaftlich Betrachtungen des Themas gab es ebenfalls. Zusammen mit Freunden haben wir die Sublimationsrate von Vollmilch-Schokolade bei Spieleabenden im praktischen Feldversuch gemessen. Eine Freundin, die gerne alles mitkocht was gerade nicht weglaufen kann, hat mich das Differenzieren von Geschmackserlebnissen gelehrt. Und ich kann mittlerweile sogar Weinkarten lesen, ohne durch meine Auswahl unangenehm aufzufallen.

Desserts finde ich faszinierend. „Nachtisch ist eine andere Magengegend“, pflegte mein anderer Großvater immer zu sagen. Und nahm sich selbst nach den üppigsten Gelagen ein Tellerchen, oder auch zwei. Mir geht es ähnlich, auch wenn ich mittlerweile den Wert eines gut zusammengestellten Käsetellers durchaus zu schätzen weiß. Vor allem, wenn es danach noch ein süßes Dessert gibt.

Als ich dann in größerem Stile begann Speisekarten zu sammeln, waren natürlich immer wieder neue Restaurants erforderlich. Neue Restaurants, neue Karten, neue Gerichte. Unbekannte Wonnenwelten, die es zu erforschen und erobern galt.

Ich konnte gar nicht mehr genug bekommen, von all diesen Köstlichkeiten und begann mich die Skala hinaufzuarbeiten bis ganz nach oben. In einem Drei-Sterne-Restaurant wurde meine gastrosophische Wertewelt vervollständigt. Dort erfuhr ich, dass auch die Hohe Gastronomie von Menschen für Menschen gemacht wird. Damals wurde mir klar, dass nicht die Höhe der Rechnung über die Qualität eines Essens entscheidet. Sondern die Freude mit der es zubereitet, serviert und gegessen wird. Die Summe dieser Freuden bestimmt die Qualität. Plötzlich konnte ich überall hingehen, wo diese Freude erkennbar war, und es schmeckte mir immer besser.

Geholfen hat sicherlich, dass ich zwischenzeitlich die Seiten gewechselt und das ein oder andere Mal gekellnert habe, in Kneipen und in einem Restaurant. In letzterem habe ich die andere Seite der Lust am Essen persönlich erfahren. Es bereitet sehr viel Freude für andere Menschen ein einfaches Essen zum Erlebnis zu machen. Dabei merkt man ganz schnell, dass es nicht nur gute Gastgeber, sondern genauso gute Gäste braucht. Daher bemühe ich mich – wie meine gesamte Familie – stets, einer zu sein.

Essen mit den passenden Getränken ist ein noch höherer Genuß. Respekt habe ich vor allen Menschen, die tolles Essen durch die passenden Getränke weiter aufwerten können. Dazu fällt mir ein Menü ein, das durch ausgefallene Cocktails ergänzt wurde. Eins und eins ist in solchen Fällen sehr viel mehr als zwei.

Zum Wein hat mich eine Freundin gebracht, vor allem zum deutschen Wein. Seitdem besitze ich sogar so etwas wie einen Weinkeller. Den Champagner habe ich allerdings selbst für mich entdeckt.

Bis heute liebe ich jede Art von Gaumenfreude, nicht nur die teuren – Mamas Brote genauso wie das nach allen Regeln der Kochkunst komponierte Sieben-Gang-Menü im nur vier Tische großen Sterne-Restaurant.

Gastrosophie, die Kunst des Speisens, ist für mich Genuß und Lebensfreude. Oder: „Essen macht Spaß – und viel Essen macht viel Spaß.“

Ich habe jetzt jedenfalls Hunger gekriegt – und ihr?

tags
#andererseits #essen